Begegnung mit Angst – Steffen Wöhner

von Steffen Wöhner

Als Lehrer der Enneallionce – Schule für Innere Arbeit begleite ich seit vielen Jahren Schüler auf ihrem inneren Weg. Die Schule beginnt mit einem äußeren Kreis, in dem es neben den Grundlagen der Inneren Arbeit, dem Zyklus zum inneren Kind, die vertiefende Trilogie Innerer Arbeit gibt.

Die übergeordneten Themen der drei Treffen sind die drei energetischen Bewegungen, die im Enneagramm beschrieben werden: die Gegenbewegung des Zorns, die Hinbewegung der „unerfüllten Liebe“ und die Wegbewegung der Angst.

Angst ist das Thema der nächsten fünftägigen „Trilogie-Veranstaltung“ auf Gut Saunstorf – Ort der Stille und ich möchte einen kurzen Einblick in die Arbeit während dieser Tage geben.

Ein zweiter Artikel befasst sich dabei mit einem grundlegenden Thema, dem wir in der Erforschung von Angst begegnen: Gewalt. Im Seminar zeigen wir dazu den deutschen Film „Das Experiment“, der auf einer wahren Begebenheit beruht und die Thematik von Angst und Gewalt sehr deutlich macht.

Angst hat es in sich

Im Laufe der Jahre haben sich die Lehrinhalte, Übungen und Methoden in diesem äußeren Kreis weiter entwickelt und verfeinert. Eines wird allerdings immer wieder deutlich: Angst hat es in sich! Dieses Thema ist für die meisten Teilnehmer eine echte Herausforderung und bringt sie oft an ihre Grenzen.

Warum ist das so?

Beim Thema Angst kommen wir in Kontakt mit einer Welt aus Bedrohung, Dunkelheit und Misstrauen, in deren Kern die Angst vor dem Tod lauert. Diese Szenarien in sich zu erforschen ist keine leichte Aufgabe. Denn erforschen bedeutet, diese Welt nahekommen zu lassen, sie ins Bewusstsein zu holen und zu fühlen. Und das kann man nur mit einem offenen Herzen. Aber wie weit ist das Herz offen für die Dunkelheit, den Tod und die Kräfte, die uns tief in unserem Inneren bedrohen? Wir haben uns doch ein Leben lang von diesen Kräften distanziert, sind vor ihnen geflüchtet und jetzt sollen wir genau da hin, genau ins Zentrum dieser Kräfte? Jeder Überlebensreflex im Körper und im Geist wehrt sich erst einmal.

Im Laufe der Jahre ist mein Verständnis gewachsen, dass dieses Thema einen Raum von Vertrauen und liebevoller Zuwendung braucht, damit die tiefe innere Erstarrung aufweichen kann. Und es braucht einen Raum von Nichtwissen, denn die fixierte Angstwelt ist in sich geschlossen und weiß scheinbar schon alles. Mit der Kenntnis des Enneagramms als Basis braucht es fühlende, offene Erforschung und ein wirkliches Erkennen und Erspüren, wie sich diese Welt in mir zeigt.

Was ist eigentlich Angst?

Diese scheinbar einfache Frage steht am Beginn dieser Sequenz.

Die Antworten zeigen, dass es viele Vorstellungen und Annäherungen gibt, aber Angst bleibt doch für viele eine unbekannte Kraft. Von der Angst hält man sich lieber fern oder man sucht sie mit ausgeklügelten Strategien zu meiden: durch Rationalisieren, durch „Überwinden“. Oft wird sie auch mit Geschichten belegt oder sie wird umgewandelt in Bewegung, in Schnelligkeit. Weitere Strategien gegen die Angst sind Verharmlosung oder Verheimlichung.

Zu Beginn dieser inneren Reise versuchen die meisten Teilnehmer– bewusst oder unbewusst – ein Rezept zu entwickeln oder zu erhalten, mit dem sie ihre Ängste loswerden können, um sich dann scheinbar mutiger und freier entfalten zu können. Verständlich, aber eine Sackgasse. Das alles ist Flucht, Wegbewegungen. Oder es ist ein Ausweichen – aber wovor eigentlich?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir erst einmal dorthin, wo wir sie finden – die Angst: in die inneren Räume des Misstrauens, des Zweifels und der Verheimlichung. Wenn wir uns dem stellen, in der wahrhaftigen Vertiefung dieses Selbsterforschungsprozesses, begegnen wir in uns einem Kampf und einer Feindseligkeit, die sich gegen das Leben selbst richtet und Gott vom Thron gestoßen hat.

Wir sind also nicht Opfer äußerer Bedrohung, sondern Täter. Täter, die durch Überhebung, Abgrenzung und Projektionen eine abgetrennte Welt geschaffen haben, die nicht real ist. Diese Begegnung mit Schattenkräften ist, wie oben schon erwähnt, für viele Teilnehmer eine echte Grenze. Hier fühlend anwesend zu bleiben und eine Vertiefung zuzulassen, braucht einen Raum von Vertrauen in die Lehre, den Lehrer und das Leben selbst. Und es braucht ein offenes Herz sowie den Wunsch nach Wahrheit.

Hier trennt sich die Spreu vom Weizen zwischen denjenigen, die es wirklich wissen wollen und denjenigen, die ihre bekannte Welt nicht verlassen wollen.

Diese Momente waren für mich als Begleiter oft schwierig, denn auch ich muss bereit sein, nicht zu wissen und der Angst, die das macht, liebevoll begegnen. Gleichzeitig ist dieses Arbeiten an der Grenze sehr fruchtbar und wirkt vertiefend. Oft sind die einfachen Momente die berührendsten:

Ich erinnere eine Szene aus einer Gruppe, die bereits drei Tage mit dem Thema gearbeitet hatte. In der Runde war Erstarrung, Kälte, Rückzug zu spüren. Niemand sagte einen Ton. Ich widerstand der Versuchung einzugreifen und schwieg. Endlich meldete sich eine Teilnehmerin und sprach einfach folgenden Satz in den Raum: „Ich habe Angst“. Drei Tage hatte keiner diese einfache Wahrheit über die Lippen gebracht. In diesem Moment wandelte sich die Energie vollständig. Nähe, Entspannung und Öffnung zeigten sich. Die Erforschung konnte beginnen. In dieser Vertiefung erlebe ich immer wieder ein Staunen darüber, wie Angst den Raum nicht mehr eng macht, sondern ihn weitet – wenn sie da sein darf. Es geht also gar nicht um die Angst selbst, die einengend wirkt, sondern um unser Verhältnis zur Angst. Das Ausgrenzen, das sich Distanzieren von dieser Kraft. Sobald sie aus der Verheimlichung ins Bewusstsein gelangt, kommt in dem zuvor zusammengezogenen System etwas ins Fließen. Das kann wie im oben genannten Beispiel innerhalb weniger Momente geschehen.

Um Angst wirklich zu erleben und zu erfahren, braucht es ein stilles sich Einlassen auf diesen Moment. Denn Angst ist immer da, nur wir sind auf der Flucht. Wenn wir aber still bleiben und präsent, zeigt sie sich und ihr wahres Gesicht. Dann kann man aber nicht mehr von Angst sprechen, so wie wir dieses Wort benutzen. Es ist eine fein fließende, dunkle Energie, die uns sehr wach, weit und verbunden fühlen lässt.

Wurzel des Leidens

In meiner eigenen Erfahrung, so wie bei den meisten Menschen, die ich begleite, muss das Leiden körperlich, emotional oder psychisch erst einmal unerträglich werden, bis der Punkt erreicht ist, radikal anzuhalten, nach innen zu schauen und zu fühlen. In dieser Innenschau wird das auftauchen, was sich über Jahre angesammelt hat. Das ist kein einfacher, aber ein gnadenvoller Prozess der Wandlung. Eine Wandlung von außen nach innen, von oben nach unten sowie von geliebten, aber irrealen Selbstbildern zur Wahrheit. Das Enneagramm dient dabei als Schlüssel, als Wegweiser und als Begleiter. Es weist deutlich auf die Wurzel des Leidens hin und ebenso auf die Möglichkeit der Befreiung. Einfach, klar, radikal.

Artikel von Steffen Wöhner, April 2015